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Grauner Wand, Jägerstand

Gaffer

Grau und steif gaffen sie jeden Tag durch mein Bürofenster. Egal ob Frühjahr, Sommer, Herbst oder Winter, unerbittlich starren und glotzen sie mit erloschenen Augen, verziehen keine Miene, gaffen einfach nur mit starrsinnigen Gesichtern. Langweilige Gesellen, die nichts geben. Keine Inspiration, keine Ablenkung, keine Überraschung. Wäre da nicht das Häuschen obendrauf, Lenzenhof nennt man es, wären da nicht die beiden lustig Fahnen darunter, ich hätte das Fenster schon lange zugeklebt.

Grauner Wände
Grauner Wände

Was will man machen mit solchen Gaffern. Mir fällt nicht viel ein. Seit Jahren gaffe ich einfach zurück und so gaffen wir uns jeden Tag von morgens bis abends von unten bis oben an. Ich hinauf, sie, die Grauner Wände herunter. So vergehen Stunden, Tage, Wochen, Jahre, ja sogar Jahrzehnte sind mittlerweile ins Land gezogen. Es ist so, wie es ist, wir Menschenkinder werden älter und schwächer, die Sehstärke nimmt ab, die Zeichen der Zeit hinterlassen ihre Spuren. In einem Anfall von Augenmüdigkeit und gleichzeitigem kindlichen Trotz, dem alltäglichen Gaff-Wettbewerb nicht schon wieder – wie jeden Tag – unterlegen sein zu wollen, greife ich den Apparat mit dem langen Teleobjektiv und gaffe mit geballter Technik zurück.

Hoppala – was ist das? Ein Baumhaus, ein Jägerstand, ein Luftschloss? Nein, nein, nein – das kann nicht sein! Das gaffe ich Jahrzehnte hinauf, finde nicht einmal einen Quell der Inspiration, der Ablenkung, der Überraschung und heute – wie aus dem Nichts – ein Luftschloss!

Grauner Wände, Jagerstand
Grauner Wände, Jagerstand

Wie vom Donner gerührt starre ich empor. Abgefallen sind die grauen Schleier von den Grauner Wänden. Bunt und jauchzend lachen sie plötzlich zu mir herunter. Fantasie beginnt zu keimen, wuchtig zu treiben, kraftvoll zu sprießen. Wird es das da oben tatsächlich ein Jägerstand sein? Ein Jägerstand der auf einem Felssporn steht? Auf einen Felssporn, der abgesetzt von den Wänden, den Stand in luftige, nein schwindelige Höhen hält? Ein Luftschloss, ein technisches Meisterwerk! Für welchen Zweck hat man ihn erbaut? Hase, Reh und Gams schießen wird es wohl nicht sein. Die haben bekanntlich keine Flügel. Luftböcke?

Da musst du rauf! Da musst du rauf! Tag um Tag schreit es in mir. Doch wie soll das gehen. Der Jägerstand schaut sehr sehr luftig aus. Und ich wüsste keinen Weg, der dahin führt.

Doch die Abenteuerlust hat mich gepackt. Man könne doch mal probieren, man könne ja mal schauen, ob man vielleicht da oben entlang der Felskante hinüber gehen könne und so weiter und so fort.

Selbstredend, dass ich niemandem mein Vorhaben ankündige. Nicht der besten Ehefrau von allen, nicht der besten Tochter von allen. Aber meinen Kumpel Herrn H. nehme ich natürlich mit. Klar!

Um das Abenteuer noch ein klein wenig abenteuerlicher zu gestalten, steigen wir über den vergessenen Pfad, dem Caposteig, hinauf über die nunmehr bunten Grauner Wände. Bunt sind freilich heute nur die Lärchen rund um der Zogglerwiese, alles andere präsentiert sich eher braun und grau. Gut, die trotzigen Eichen, die dem Winter nicht ihr Laub abgeben wollen, tragen ein klein wenig Orange Töne auf und ja die Föhren tupfen noch ein wenig Dunkelgrün dazu, aber sonst, braun in grau.

Die Lärchen vom Zoggler. Im Hintergrund der Schwarze Kopf und ganz rechts der Roen.
Die Lärchen vom Zoggler. Im Hintergrund der Schwarze Kopf und ganz rechts der Roen.

Herr H. wäre nicht Herr H., wenn er nicht schon beim Aufstieg über den Caposteig zu nörgeln begonnen hätte. Das sei ja doch sehr steil und eigentlich sei das auch recht abschüssig und rutschig und da vorne, oh da vorne, die Felsen, die sehen sehr ausgesetzt aus und und und. Herr H. ist ein Nörgler!

Ausblick vom Caposteig auf das spätherbstliche Tramin
Ausblick vom Caposteig auf das spätherbstliche Tramin

Trotzdem schätze ich Herrn H. Seine Meinung ist mir wichtig und so kommt es doch recht oft vor, dass ich seinem Rat folge.

Jetzt da wir an der Felskante über den Grauner Wänden entlang schleichen, den einen und anderen Ausblick suchend, aber vor allem in der Hoffnung das „Luftschloss“ entdeckend, befolge ich seinen Rat – mit Widerwillen – doch trotzdem beflisslich. Ich habe ein zwiegespaltenes Verhältnis zu Herrn H. Ich schätze ihn und zugleich ist er mir oft zuwider. Zuwider weil er mir immer wieder einreden will, ich solle doch nicht so weit raus, so nahe an die Kante. Was mache es schon, wenn man einige Meter zurück bleibe, sich da setzte und das Foto von dort schieße. Herr H. hat keine Ahnung von Fotografie!

Ausblick von der Grauner Wand tief hinunter nach Tramin

Doch trotzdem bin ich froh, dass er mit ist. Ich würde sogar behaupten, dass eine gewisse Wahrscheinlichkeit bestünde, dass dieser Text nicht entstanden wäre, wäre Herr H. nicht mit dabei gewesen. Die Wahrscheinlichkeit, dass mich die bunten lachenden Grauner Wände gepackt hätten, mich in ihren nunmehr magisch anziehendem Banne gelockt hätten, mir Stolpersteine gelegt hätten, mich in den Abgrund geworfen hätten, ja ich muss zugeben, eine gewisse Wahrscheinlichkeit wäre vorhanden gewesen, wenn nicht Herr H. mit mahnenden Worten ständig neben mir gestanden wäre.

Bunte lachende archaische mächtige Grauner Wände. Von unten herauf haben sie öd, platt und langweilig gewirkt, von hier oben schauen sie plötzlich wunderbar, plastisch, facettenreich aus. Eine magische Steinwelt.

Das Profil der Grauner Wände

Wir wagen uns vorsichtig auf den einen und anderen Felsvorsprung hinaus. So können wir die Wände längs im Profil bestaunen. Ein mächtiges Werk, wie von Titanen geschaffen. Wen wunderts, dass da unten die Menschlein ängstlich emporschauen und sich nach Schutzbauten sehnen. Schöne bedrohliche Wände.

Felsnadel in der Grauner Wand
Felsnadel in der Grauner Wand

Ein einzelner Baum auf einer Felsnadel zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Ein erhabenes Motiv. Moment, was schaut da hinter der Felsnadel hervor. Schaut aus wie ein Dach. Das muss es sein, das gesuchte Luftschloss!

Vorsichtig steigen wir auf rutschigen Laub um die Schneise, die uns vom Ziel trennt, herum. Sicherheitshalber halten wir gebührenden Abstand zur Kante und steigen einige Meter ins Hinterland zurück.

Fast wäre ich gestolpert, über ein Grasbüschel. Ein ausgetretener Steig schlängelt sich vor unseren Augen auf die Geländekante hinaus. Mein Luftschloss beginnt zu bröckeln. Ich hatte mir einen quasi nicht vorhandenen Zugang erwartet. Sowas in der Richtung Geheimzugang, etwas Geheimnisvolles, Verstecktes! Ein schnöder Steig passt so gar nicht in mein Gedankenbild. Wenn hier so ein normaler Steig entlang läuft, dann wird er wahrscheinlich zu einem normalen Jägerstand führen. Zu einem wie viele. Ich bin enttäuscht.

HALT – Unbefugten ist der Zutritt untersagt! Ein rotes Verbotsschild schreit uns entgegen. Naja. Mich bekümmert es wenig und Herrn H. auch nicht.

Doch mit jedem Schritt da wir uns näheren wächst Klarheit. Oha, kein normaler Jagerstand, ein Luftschloss wie es im Buche steht!

Jauchzend will ich schon rüber springen – doch Herr H. wäre nicht Herr H., wenn er mich nicht am Arm gepackt und mit festem Griff zurück gehalten hätte.

„Langsam, Kollege, langsam! Zuerst den Fotoapparat umschnallen, dass nichts baumelt, dass sich nichts verhaken kann, denn umdrehen, die Eisenleiten vorsichtig rückwärts runter steigen, bei jedem Tritt prüfen, ob das Ding hält, die Brett-Brücke testen ob sie stabil genug ist, dein Gewicht zu tragen…!“, Herr H., der Nörgler hat heute einen ruhigen, überlegenen Tag. Das ist nicht immer so. Manchmal ist er aufgeregt, panisch, hektisch. Nicht so heute, heute ist er ruhig, klar, berechnend. Heute ist er ein Fels!

Folgsam füge ich mich seinem Edikt und trete ein in das Luftschloss über den Grauner Wänden und blicke lachend hinunter zum Fenster meines Büros!

Blick hinunter in mein Bürofenster
Blick hinunter in mein Bürofenster

(Ach ja, Herr H. heißt mit Familiennamen „Hase“ und mit Vornamen „Angst“. Er ist ein guter und wichtiger Freund, ein Kumpel fürs Leben!)

Fotoimpressionen

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